Valenztheorie

Valenztheorie
Valẹnztheorie
 
[v-], zusammenfassende Bezeichnung für Theorien zur Beschreibung chemischer Bindungen, aus denen sich z. B. die Stabilität von Molekülen, bestimmte Bindungsabstände und -energien, Molekülgeometrien und Elektronenverteilungen ableiten lassen. Dass Bindungen auf verschiedene elektrische Ladungen der Atome zurückzuführen sind, wurde erstmals 1807 von H. Davy angenommen. Davon ausgehend entwickelte J. J. Berzelius 1812 die elektrochemische Theorie, nach der chemische Elemente in elektropositive und elektronegative unterteilt wurden. Widersprüche zwischen dieser Theorie und den praktischen Erkenntnissen der organischen Chemie (z. B. die Möglichkeit der Substitution von Wasserstoff durch elektronegative Elemente) führten zur Entwicklung der Typentheorie durch A. Laurent, J. B. A. Dumas und C. F. Gerhardt (1840-56). 1852 wurde von E. Frankland die Valenz (Wertigkeit) als Fähigkeit eines Atoms definiert, mit einer bestimmten Anzahl anderer Atome eine Verbindung einzugehen. A. S. Couper hat als Erster Bindungen als Striche zwischen den Elementsymbolen angegeben (1858) und unabhängig von F. A. Kekulé von Stradonitz und A. W. H. Kolbe (1857) die Vierwertigkeit des Kohlenstoffs festgestellt. Erweiterungen waren die Annahme von Mehrfachbindungen, die Aufstellung der Ringformel des Benzols mit alternierenden Doppel- und Einfachbindungen (Kekulé von Stradonitz, 1865) sowie die Grundlegung der Stereochemie durch J. H. van't Hoff und J. A. Le Bel (1874). Das Bestehenbleiben restlicher Bindungsmöglichkeiten bei den an Doppelbindungen beteiligten Kohlenstoffatomen versuchte man durch so genannte Partialvalenzen zu erklären (F. K. J. Thiele, 1899).
 
Die erste Valenztheorie unter Berücksichtigung von Atommodellen wurde um 1910 von J. J. Thomson und J. Stark entwickelt. Kaufman George Falk (* 1880, ✝ 1953) und John Maurice Nelson (* 1876, ✝ 1965) schlugen zur gleichen Zeit vor, als »Wertigkeit« eines Elements die Zahl der bei einer chemischen Reaktion aufgenommenen oder abgegebenen Elektronen zu bezeichnen (»Valenzelektronentheorie«). G. N. Lewis erklärte 1916 die chemische Bindung durch die Existenz gemeinsamer Elektronenpaare. Er wies darauf hin, dass Moleküle dann besonders stabil sind, wenn jedes Atom - wie bei den Edelgasen - von acht Valenzelektronen umgeben ist (Oktetttheorie). Moderne Valenztheorien beruhen auf den Gesetzen der Quantenchemie. Das Valence-Bond-Modell (VB-Modell, Valenzstrukturmethode) nach W. H. Heitler, F. W. London, J. C. Slater und L. C. Pauling (1927-31) geht davon aus, dass die Elektronenhüllen der Einzelatome (Atomorbitale) im Molekül erhalten bleiben. Bei der Molekülbildung nähern sich die Atome, und es kommt unter Energieabgabe zu einer Überlappung ihrer Atomorbitale bis zu einem energetisch begünstigten Abstand zwischen den Atomkernen (Bindungslänge). Die vorhandenen Elektronen werden unter der Bedingung, dass überlappende (ebenso wie nicht überlappende) Atomorbitale maximal zwei Elektronen mit antiparallelem Spin (Pauli-Prinzip) enthalten dürfen, auf das Molekül verteilt. Das VB-Modell erklärt die Bindungswertigkeit von Hauptgruppenelementen und - bei Einbeziehung des Modells der Hybridorbitale (Hybridisierung) - auch das Zustandekommen bestimmter Bindungswinkel. Das Molekülorbitalmodell (MO-Modell), das ab 1930 von F. Hund und R. S. Mulliken entwickelt wurde, geht davon aus, dass bei der Molekülbildung die Atomorbitale ihre Identität verlieren und dass für das ganze Molekül charakteristische Molekülorbitale gebildet werden. Die zur mathematischen Beschreibung von Atomorbitalen verwendeten Wellengleichungen sind für Moleküle nicht exakt lösbar. Nach der Näherungsmethode der Linearkombination erhält man aus zwei Atomorbitalen zwei Molekülorbitale. Eines davon liegt energetisch höher und damit ungünstiger (antibindendes Molekülorbital), das andere liegt energetisch tiefer und damit günstiger (bindendes Molekülorbital) als die isolierten Atomorbitale. Molekülorbitale werden unter Berücksichtigung des Pauli-Prinzips nach steigender Energie mit Elektronen besetzt. Die Besetzung bindender Molekülorbitale führt zu einer Festigung, die Besetzung antibindender Molekülorbitale zu einer Lockerung der Bindung.

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Va|lẹnz|the|o|rie, die: Theorie über die Entstehung von Molekülen u. die Ausbildung chemischer Bindungen.

Universal-Lexikon. 2012.

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